04
Jun, 2017
Demokratie ist (k)ein Zustand
Mit großer Ungeduld und erhobenem Zeigefinger sehen wir nach Nordafrika oder auf andere junge Demokratien. Geradezu abschätzig tadeln wir, dass sie nicht sofort im ersten Anlauf und im ersten Jahr nach einer Revolution zu einer stabilen Demokratie werden.
Und wir tadeln Politik und Institutionen, wenn demokratische Einigungsprozesse etwas länger dauern und nicht gleich in der ersten Verhandlungsrunde jenes Ergebnis bringen, das vor allem wir selbst uns vorstellen – all das in großer Ignoranz über die Gleichwertigkeit der Interessen anderer und darüber, dass ein Ausgleich derselben immer Zeit brauchen wird. Wertend richten wir über die Interessen anderer … noch heute. Und wir wollen junge Demokratien tadeln?
Aus heutiger Sicht sieht es in der allgemeinen Wahrnehmung so aus, als wäre beispielsweise Frankreich unmittelbar nach der Revolution von der Monarchie zur Demokratie mutiert. Was der französischen Revolution tatsächlich folgte waren weitere Bürgerkriege, demokratische Versuche, Rückschritte, Massaker, Chaos (vgl. Primacy of Politics, S. Berman). Erst ab der fünften Republik unter de Gaulle (!) ab 1959 gilt Frankreich als stabile Demokratie. Über 160 Jahre mussten also vergehen, um zu funktionierenden und stabilen demokratischen Institutionen zu kommen. Sehen wir auf die USA, die ja vermeintlich bereits als Demokratie gegründet wurden. Blättern wir hier in der Geschichte also zurück und fragen uns, wer denn zu Beginn in den USA wählen durfte. Wir stellen fest: die weißen Grundbesitzer. Also vielleicht doch keine Demokratie. Es folgten ein Bürgerkrieg und die Abschaffung der Sklaverei, und ein Amendement zur Verfassung mit Wahlrecht für alle außer jene, die die so genannten Literacy Tests nicht bestanden (kurz: Analphabeten). Dann sehen wir uns an, um welche Bevölkerungsgruppen es sich hierbei handelte, und stellen fest: immer noch keine Demokratie. Erst mehr als 190 Jahre nach der Gründung gab es in den USA das freie, gleiche und uneingeschränkte Wahlrecht für alle. 160 bzw. 190 Jahre!
Wie lange brauchen Länder mitsamt all ihren Einwohnern, um sich an demokratische Rechte, Pflichten und Institutionen zu gewöhnen, die für eine funktionierende Demokratie nötig sind? Ganze Völker müssen lernen, was z.B. Korruption oder Vetternwirtschaft sind und warum das in einer Demokratie inakzeptabel ist. Wie lange brauchen wir, um zivilisiert diskutieren zu können und die Meinung anderer als perfekt gleichwertig zu respektieren? Selbst entwickelte Demokratien raufen noch immer mit diesem Phänomen – und wir blicken abfällig nach Ägypten und sagen: „Was ist mit Euch? Das war jetzt aber nichts, oder? Ihr seid gescheitert.“
Wenn wir also heute davon ausgehen, Institutionen und Mechanismen der Demokratie so weiterzuentwickeln, dass sie einer sich gerade etablierenden Netzwerkgesellschaft gerecht werden, dann haben westliche Demokratien noch einen weiten Weg vor sich, dies respektvoll gemeinsam zu erarbeiten. Im Idealfall führt diese Reise über das Tal der Selbstreflexion weiter auf die Anhöhe des gegenseitigen Respekts und wird vorzugsweise nicht auf dem hohen Ross unternommen.
Text: Isabella Mader