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Mit großer Ungeduld und erhobenem Zeigefinger sehen wir nach Nordafrika oder auf andere junge Demokratien. Geradezu abschätzig tadeln wir, dass sie nicht sofort im ersten Anlauf und im ersten Jahr nach einer Revolution zu einer stabilen Demokratie werden.
Und wir tadeln Politik und Institutionen, wenn demokratische Einigungsprozesse etwas länger dauern und nicht gleich in der ersten Verhandlungsrunde jenes Ergebnis bringen, das vor allem wir selbst uns vorstellen – all das in großer Ignoranz über die Gleichwertigkeit der Interessen anderer und darüber, dass ein Ausgleich derselben immer Zeit brauchen wird. Wertend richten wir über die Interessen anderer … noch heute. Und wir wollen junge Demokratien tadeln?
Aus heutiger Sicht sieht es in der allgemeinen Wahrnehmung so aus, als wäre beispielsweise Frankreich unmittelbar nach der Revolution von der Monarchie zur Demokratie mutiert. Was der französischen Revolution tatsächlich folgte waren weitere Bürgerkriege, demokratische Versuche, Rückschritte, Massaker, Chaos (vgl. Primacy of Politics, S. Berman). Erst ab der fünften Republik unter de Gaulle (!) ab 1959 gilt Frankreich als stabile Demokratie. Über 160 Jahre mussten also vergehen, um zu funktionierenden und stabilen demokratischen Institutionen zu kommen. Sehen wir auf die USA, die ja vermeintlich bereits als Demokratie gegründet wurden. Blättern wir hier in der Geschichte also zurück und fragen uns, wer denn zu Beginn in den USA wählen durfte. Wir stellen fest: die weißen Grundbesitzer. Also vielleicht doch keine Demokratie. Es folgten ein Bürgerkrieg und die Abschaffung der Sklaverei, und ein Amendement zur Verfassung mit Wahlrecht für alle außer jene, die die so genannten Literacy Tests nicht bestanden (kurz: Analphabeten). Dann sehen wir uns an, um welche Bevölkerungsgruppen es sich hierbei handelte, und stellen fest: immer noch keine Demokratie. Erst mehr als 190 Jahre nach der Gründung gab es in den USA das freie, gleiche und uneingeschränkte Wahlrecht für alle. 160 bzw. 190 Jahre!
Wie lange brauchen Länder mitsamt all ihren Einwohnern, um sich an demokratische Rechte, Pflichten und Institutionen zu gewöhnen, die für eine funktionierende Demokratie nötig sind? Ganze Völker müssen lernen, was z.B. Korruption oder Vetternwirtschaft sind und warum das in einer Demokratie inakzeptabel ist. Wie lange brauchen wir, um zivilisiert diskutieren zu können und die Meinung anderer als perfekt gleichwertig zu respektieren? Selbst entwickelte Demokratien raufen noch immer mit diesem Phänomen – und wir blicken abfällig nach Ägypten und sagen: „Was ist mit Euch? Das war jetzt aber nichts, oder? Ihr seid gescheitert.“
Wenn wir also heute davon ausgehen, Institutionen und Mechanismen der Demokratie so weiterzuentwickeln, dass sie einer sich gerade etablierenden Netzwerkgesellschaft gerecht werden, dann haben westliche Demokratien noch einen weiten Weg vor sich, dies respektvoll gemeinsam zu erarbeiten. Im Idealfall führt diese Reise über das Tal der Selbstreflexion weiter auf die Anhöhe des gegenseitigen Respekts und wird vorzugsweise nicht auf dem hohen Ross unternommen.

Text: Isabella Mader

Bastille

Von Isabella Mader 

Netzwerke sind klar die neue, erfolgreiche Organisationsstruktur, sei es im Handel (Amazon, Ebay, …), im Gewerbe (Uber, Airbnb, …) oder eben auch, um Arbeit zu organisieren. Angestellte Tätigkeiten werden zunehmend durch Freelance ersetzt, und zwar nicht nur bei klassischen Auftragsarbeiten wie etwa Grafik-Design, sondern für alles: vom Sekretariat bis zu Projektmanagement. Das Konzept der Anstellung ist also ein Auslaufmodell. Gleichzeitig ist angestellte Arbeit aber auch wesentliche Basis eines langwierig verhandelten Sozialvertrages im engeren Sinne und begründet eine Art Symbiose gegenseitiger Abhängigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Durch die Fortentwicklung der Gesellschaft stellen wir fest, dass das so nicht mehr haltbar ist. Der bisherige Sozialvertrag löst sich also auf – und das Verhältnis der am Wirtschaftsleben Beteiligten ist neu zu definieren.

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Im Umbruch von der Industriegesellschaft zur Netzwerkgesellschaft ersetzen also leichtgewichtige Netz­werkstrukturen die schwer­fälligen, mit (selbstgemachten und gesetzlichen) Regelwerken überlasteten Silo-Strukturen der Industriegesellschaft. Netz­werke orchestrieren heute Assets statt sie zu besitzen. Arbeit im Angestelltenverhältnis wird zunehmend durch Freelance ersetzt, Ein-Personen-Unternehmen werden die neue Arbeitsform. In den USA waren 2015 bereits über 40 Prozent der Arbeitenden in so genannten “insecure contingent jobs” (“unsicheren” Arbeitsverhältnissen: befristete Projektverträge oder Freelance [1]). Tendenz stark steigend. Krampf­haftes Festhalten an alten Strukturen durch Regel­verschärfung bringt uns zudem um die Möglichkeit, beizeiten jene neuen Rahmenbedingungen für die Zukunft der Arbeit zu gestalten, die schließlich unvermeidlich sein werden.

Die Zeitenwende kündigt sich aber nicht nur durch einen radikalen Wandel der Organisationsformen und die Disruption von Geschäftsmodellen an. Wie auch an der letzten Zeitenwende wiederholen sich heute Phänomene, die Beachtung verdienen:

  1. “Social Disconnect”,
    also eine Entfremdung und Vertrauensverlust zwischen Eliten und Bürgerinnen und Bürgern;
  2. Zunehmende Ungleichheit und
  3. Steigende Unsicherheit in der Lebensplanung.

Die Ursache für das Kippen des Gleichgewichtes und das Davonziehen der Eliten in Bezug auf Einkommen liegt dabei damals wie heute unter anderem darin, dass einerseits jene, die im Besitz der neuen Kulturtechnik sind oder diese beherrschen, rasch einen wirtschaftlichen Vorteil über jene erlangen, die nicht in dieser Lage sind. Andererseits “funktioniert” der Sozialvertrag der vorangegangenen Epoche für die Strukturen und das soziale Gefüge der neuen Epoche nicht mehr.

Wir brauchen also einen neuen Sozialvertrag. Nachdem der letzte im Erstentwurf aus 1762 von Jean-Jacques Rousseau stammt und es seither wohl verhandelte evolutionäre Anpassungen im Rahmen der Weiterentwicklung der Industrie­gesellschaft gab, aber keine Neufassung eines solchen umfassenden Sozialvertrages im weiteren Sinne für die Netzwerkgesellschaft vorliegt, soll das vorliegende Paper eine erste Diskussionsgrundlage liefern.

Welche Rahmenbedingungen bedürfen nun einer dringenden Überarbeitung?

Teil 1: Von der repräsentativen zur partizipativen Demokratie

Ein zentraler Eckpunkt eines Sozialvertrages ist die Staatsform bzw. die Festlegung, von wem der Wille in einem nationalen Gefüge ausgeht. Mit der aktuellen Form der Entscheidungsfindung, der Demokratie, haben wir zuletzt allerdings durchaus eine Reihe von Schwierigkeiten:

Die Wertschätzung für Demokratie ist im freien Fall: Die World Values Surveys [2] zeigen, dass mit dem Lebensalter auch die Wertschätzung gegenüber Demokratie stark abnimmt: in den USA sinkt die Zustimmung von ca. 75% bei den Geburtsjahrgän­gen der 1930er auf nur mehr knapp über 30% bei 1980er Jahrgängen. Darüber hinaus kann Demokratie in ihrer heutigen Form von autoritären Machthabern als Legitimierungsinstrument missbraucht werden, während den Menschen wirkliche Teilhabe an der Entscheidungsfindung verwehrt bleibt. Die jüngst zu beobachtende Tendenz, dass autoritäre Führungspersönlichkeiten und Gruppierungen in einer ganzen Reihe westlicher Demokratien massiven Zulauf verzeichnen, ist eine nicht weniger beunruhigende Tendenz: Trump, Marine Le Pen, Nigel Farage und die Leave Campaign in Großbritannien oder die AfD in Deutschland, um nur einige zu nennen.

Demokratie Wertschätzung

Wie kann aber nun eine Weiterentwicklung der Demokratie aussehen? Der Sozialvertrag von 1762 legte ein besonderes Schwergewicht auf die Rechte und Pflichten des Einzelnen. Aus heutiger Sicht müsste eine Neufassung wohl zusätzlich Rechte, Pflichten und Verantwortung im Rahmen der Gemeinschaft mit umfassen. Kurz: Teilnahme am Ganzen. Der Vorschlag lautet daher, dass wir uns von einer repräsentativen zu einer partizipativen Demokratie weiter­entwickeln.

Wie kann so etwas organisiert werden? Partizipation kann letztlich keine ausschließliche Plebiszit-Inflation sein, zumal Volksabstimmungen allein zu missbrauchs­anfällig sind, wenn sie zum bloßen Legitimierungs­instrument verkommen und schlecht informierte Bürger populistisch manipuliert über etwas abstim­men, wozu ihnen Diskussion und Fakten vorenthalten werden. Reine online-Partizipationsmodelle ohne folgende Präsenzdiskussion richten den Menschen auch nur aus: “Wir wollen eigentlich nicht mit Euch reden.” Beteiligung stellen wir uns auch bitte nicht so vor, dass sich 7.000 Menschen in der Stadthalle versammeln und durcheinanderreden.

Funktionierende Partizipation ist auf zwei Weisen sinnvoll möglich. Einerseits im Rahmen von zivilgesellschaftlichem Engagement, etwa im Katastrophenschutz oder in sozialem Engagement. Andererseits kann Partizipation durch Teilnahme an öffentlichen Projekten erfolgen, bei denen von Personen, die sich für ein Thema interessieren oder darin kompetent sind, gemeinsam mit dem Government Programme für die Gemeinschaft entwickelt werden. Ein Beispiel dafür wäre etwa die Digitale Agenda der Stadt Wien, bei der Bürgerinnen und Bürger die digitale Strategie der Stadt (mit-) entwickelten und auch an Folgeprojekten mitarbeiteten.

Diese Art der Ko-Kreation führt auch dazu, dass Programme, die gemeinsam entwickelt wurden, besser mitgetragen und legitimiert werden und dass insbesondere die Komplexität der heutigen Einflussfaktoren durch die Anzahl an Mitwirkenden deutlich besser überblickt werden kann.

Das neue Paradigma müsste also lauten, dass wir bereit sind, mehr Verantwortung für uns selbst und auch für die Gemeinschaft zu übernehmen. Es geht also in einer partizipativen Demokratie weniger darum, wichtig zu sein als mehr darum, einen Beitrag zu leisten.

Teil 2: Bekenntnis zum wirtschaftlichen Gleichgewicht

Das Sichern kleiner Einkommen, zunehmend im Freelance und EPU-Bereich wird vermutlich zur Überlebensstrategie der Netzwerkgesellschaft. Länder, in denen die mittleren und unteren Einkommensgruppen abrutschen, kämpfen heute damit, dass sich enttäuschte und desperate Menschen in Massen radikalen und populistischen Führerpersönlichkeiten und/oder rechtsradikalen Parteien zuwenden. Zwei Beispiele: Die Reallöhne in Großbritannien lagen 2015 um 7 Prozent unter jenen von 2007 (während sie in Kanada 5% über den Werten von 2007 lagen). Die Reallöhne der untersten 10 Prozent der Einkommen in den USA liegen heute unter jenen des Jahres 1979 (!) – die mittleren Einkommen sind real im Wesentlichen seit damals unverändert (!) – allein die obersten 10 Prozent der Einkommen sind kräftig gestiegen. Ein weiteres Zuwarten bei der v.a. steuerlichen Entlastung kleiner Einkommen rächt sich derzeit für Parteien der Mitte praktisch täglich. [3]

Der Sozialvertrag im engeren Sinne, der u.a. die wechselseitige Verantwortlichkeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern regelt, wird das zuvor Gesagte in Bezug auf kleine Einkommen besonders zu berücksichtigen haben. Soziale Errungenschaften wie Krankenversicherung und Pensionsvorsorge sowie berufliche Weiterbildung fallen in einer Netzwerk-Ökonomie ohne Neufassung eines Sozialvertrages ausschließlich den Freelancern zur Last, die sich von häufig geringerer Bezahlung als bisher auch noch selbst verwalten, versichern, versteuern und weiterbilden müssen – und obendrein ihre Betriebsmittel zumeist noch selbst zahlen und erhalten (das Auto des Uber Fahrers zahlt/repariert/versichert der Fahrer usw.). Sozialer Sprengstoff ist durch die enorme Größe dieser Kohorte gewissermaßen vorprogrammiert, wenn es nicht gelingt, Bezahlung und soziale Sicherheit angemessen zu regeln. Portable Abfertigung, ein Anteil an Sozialversicherung sowie eine Neufassung von Mindestlöhnen werden angedacht, kämpfen aber gegen das Faktum, dass Unternehmen nicht an Vergabe im Inland gebunden sind (Ausnahme ortsgebundene Dienstleistungen wie Zustellung etc.): Nichts spricht gegen einen Auftrag an einen Webdesigner in Bangladesh, der über eine der unzähligen Freelancer-Plattformen leicht zu finden ist, und der unter Umständen die Arbeit genau so gut macht wie ein Europäer, aber eben um ein Zehntel des Honorars. Die Konkurrenz am Arbeitsmarkt muss nicht mehr einwandern – sie dumpt den Westen viel besser von zu Hause aus, bei dort geringeren Lebenshaltungskosten.

Gleichzeitig kannibalisieren Konzerne des Westens damit aber ihre eigene Kundschaft: ins Prekariat und in Armut abrutschender Mittelstand machen keine zahlungskräftigen Konsumenten. Nachfrage und Wachstum sinken. Soweit der Befund.

Eine mögliche Lösung muss hier jedenfalls die Verhandlungsmacht der Beteiligten berücksichtigen: Die Verhandlungsmacht der Plattformunternehmen ist evident, die Verhandlungsmacht der Werktätigen ist aktuell nicht existent, was naturgemäß zu einer Übervorteilung der Arbeitskräfte führt. Gebraucht wird eine neue Organisationsform, die einerseits die Verhandlungsmacht der Werktätigen sicherstellt und andererseits die unwirtschaftliche Selbstverwaltung in den Griff bekommt. Hier bieten sich unter anderem gemeinnützige Organisationen oder auch Genossenschaften an, an denen Werktätige einen Anteil halten können und für ihre Mitgliedschaft im Gegenzug Leistungen erhalten wie bspw. die Abrechnung ihrer Abgaben, Buchhaltung, Lohnverrechnung und optional weiterer Leistungen (die anteilig für viele natürlich effizienter und günstiger erbracht werden können als von Einzelnen) sowie die Teilnahme an einer Plattform, auf der ihre Dienstleistungen und Produkte suchbar und buchbar sind, abgerechnet und bewertet werden können. Solche Konstruktionen können sowohl genossenschaftlich als auch non-profit organisiert werden, mit Mitgliedsbeiträgen für unterschiedliche Leistungen der Plattform, oder auch nur mit einer geringen Kommission für die Nutzung der Services. Derartige Plattformen bzw. Genossenschaften müssten auf gemeinschaftlichen Standards z.B. bezüglich der Bezahlungs- und Sozialstandards beruhen. Solche Qualitätsplattformen würden als Cooperative Economy ein Gegengewicht zum verbreiteten Lohn- und Sozialdumping der so genannten Sharing Economy bilden und zwar sowohl in der Verhandlungsmacht als auch für Effizienzsteigerung durch zentral freilich effizienter und dadurch günstiger zu erbringende Administration. Solche Organisationsformen würden sich für eine Unterstützung durch die öffentliche Hand anbieten. Die Stadt Wien ist im genossenschaftlichen Organisieren leistbaren Wohnens bereits Vorreiterin und zeigt, dass sich dies insbesondere im Vergleich zu anderen Städten deutlich preisdämpfend für Konsumenten auswirkt. Was spricht dagegen, dieses Modell auch auf andere Bereiche anzuwenden, also z.B. gegen Lohn- und Sozialdumping? Sowohl private als auch öffentlich organisierte Genossenschaften fänden hier ein breites Betätigungsfeld. Es gibt bereits einige vielversprechende Inititativen im Umfeld der Cooperative Economy: hier liegt in der Tat eine mögliche Lösung für die bislang ungelöste Frage, wie dem Lohn- und Sozialdumping im Umfeld der Sharing Economy begegnet werden könnte. Fazit: Kräftegleichgewicht stabilisiert Systeme.

Ein Umdenken in den Staatsfinanzen wird ebenfalls nötig sein: Sowohl in einem Projekt an der Universität Harvard [4] als auch in einem viel beachteten Beitrag von Ökonomen des IWF [5] zeigt sich, dass unterfinanzierte oder mangelhaft mit Kredit ausgestattete Systeme zu höherer Volatilität und Instabilität sowie zu einem insgesamt geringen Wachstum neigen. In ihrem Beitrag machen die Autoren des IWF-Papers die langjährige Austeritätspolitik ihres eigenen Hauses mitverantwortlich für die Ära des schwachen Wachstums, in dem wir uns zweifelsohne befinden. Mariana Mazzucato hat in einem jüngsten Bloomberg-Interview auch erklärt, dass jene Staaten, die mit schuldenfinanzierten Investitionen ein höheres BIP Wachstum erreichen als der Schuldendienst kostet, auf diese Weise mittel- bis langfristig sanieren können. Heruntergesparte Einheiten würden dies nicht schaffen: sie bleiben instabil und haben langfristig zu geringes Wachstum. Fazit: Ohne Investment kein Return.

Ein Umdenken in der Steuerpolitik scheint für die Wirtschaft in der Netzwerkgesellschaft ebenfalls angezeigt. Aktuell besteuern viele Länder Kapitalerträge hervorragend gering, während Arbeit oft doppelt bis dreifach so hohe Abgabenlast trägt. Das führt dazu, dass Unternehmen zu Effizienzinnovation greifen, die Arbeit und damit Kapital freisetzt, das dann in Finanzmärkte fließt, was in den USA z.B. zu den berüchtigten Aktien-Rückkäufen führt. Kein Wunder: Allein durch das starke Ungleichgewicht in der Besteuerung rentiert sich Investition in Arbeitskraft schlichtweg nicht. Marktgenerierende Innovation, die Clayton Christensen auch immer wieder erklärt, die langfristig Rendite schafft und auch in Arbeitskraft investiert, unterbleibt, weil das Rückverdienen aus den gleichen Gründen zu lange dauert und zu wenig ertragreich bleibt. Eine Angleichung der Besteuerung von Arbeit hin zu Wertschöpfung und Kapitalerträgen wäre dringend angeraten. Erfreulicherweise haben in Bezug auf die genannten Punkte einige Länder hier kürzlich reagiert [6]Fazit: Wir steuern durch Steuern.

Teil 3: Reduktion der Regelungsdichte

sozialvertrag_cDie Sharing Economy zeigt, dass es prinzipiell mit wesentlich weniger an Regulierung auch ginge. Diese Erkenntnis ist durchaus trivial. Jedes System braucht zu seinem Funktionieren ein gewisses Maß an Regeln. Wo der Punkt zwischen den effizienzerhöhenden und schadensmindernden Wirkungen von Regeln und einer unwirtschaftlichen Bürde liegt, ist als Fragestellung freilich nicht trivial. Dennoch ist dieser Punkt anzustreben.[7]

Teil 4: Bildung in neuen Kulturtechniken

An der letzten Zeitenwende stand als sinnbildliche, frühe Innovation der beginnenden Industriege­sellschaft die Erfindung des Buchdrucks. Alle konnten plötzlich ein Buch haben. Großartig! Es war allerdings auch von Vorteil lesen zu können, um in den Genuss der Segnungen dieser Innovation zu kommen. Das ist heute nicht anders. Ein Internetanschluss wäre vergleichbar mit “Buch haben”, damit umgehen zu können bedeutet jedoch nicht, ein Jahr lang einen Facebook Account unfallfrei bedienen zu können. Programmierung, Webtechnologien und Informations- und Medienkompetenz sind heute unter anderem jene Kulturtechniken, die so selbstverständlich werden müssen wie Lesen und Schreiben, um die digitale Schere der Chancen zu schließen.

Dazu reicht es freilich nicht, Kinder und Jugendliche diesbezüglich auszubilden. Die im Erwerbsleben stehenden Erwachsenen und auch Arbeitslose sind in diese Strategien konsequent, flächendeckend (und rasch) zu inkludieren. Aktuell sehen wir, dass allein in IT Berufen (als nur eines von vielen Beispielen) deutlich über 400.000 freie Stellen in Europa vorhanden sind, die mangels kompetenter Personen am Arbeitsmarkt nicht besetzt werden können. Gleichzeitig schreitet die Freisetzung von Arbeitskräften mit zu wenigen der aktuell gefragten Kompetenzen zügig fort. Dies zu beklagen, ist wenig hilfreich. An Zeitenwenden fallen massiv “alte” Berufe weg und viele neue entstehen. An der letzten Zeitenwende war das nicht anders. Die Liste der ausgestorbenen, historischen Berufe auf Wikipedia ist einen Blick wert. Eigentlich gut, müsste man meinen, dass schweres Material heute von Kränen und nicht mehr von Menschen gehoben wird. Der Mensch befreit sich von dumpfer und schwerer, körperlicher Arbeit.

Eine weitere Kulturtechnik, die wir brauchen werden, wenn wir in das Entrepreneur-Zeitalter gehen, ist freilich wirtschaftliche Bildung. Derzeit noch, wenn es auch gute Einzelaktionen gibt, ist eine flächendeckende Integration in die Lehrpläne noch nicht umgesetzt. Programme wie jenes der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, im Rahmen derer während eines Schuljahres Schulkinder experimentell ein Unternehmen gründen und betreiben, sind hier positiv hervorzuheben.

Als weitere Kompetenz im Netzwerkzeitalter und einer Zeit der partizipativen Demokratie ist der Sinn für Gemeinschaft etwas, das wir unseren Kindern leider konsequent abtrainieren. In einem von Prof. Hüther referierten Experiment zeigen Kleinstkinder, dass sie bereit sind, einander bei der Bewältigung von Aufgaben zu helfen. Mit sieben Jahren stehen viele Kinder im gleichen Experiment daneben und sehen ihren Altersgenossen beim Scheitern zu. Dieses Verhalten ist nicht natürlich, sondern antrainiert. Wenn wir also nun von der Industriegesellschaft, in der die Maxime “Konkurrenz belebt das Geschäft” galt, in die Netzwerkgesellschaft mit der Maxime “Kooperation belebt das Geschäft” gehen, betreten wir das Zeitalter kollaborativer Kultur, in der Kooperation dem Prinzip Einzelkämpfertum klar überlegen ist. Schaffen wir es nicht, konsequent einen Sinn für Gemeinschaft und Hilfsbereitschaft zu trainieren und zu kultivieren, so wird das hochkomplexe Gebilde der Netzwerkgesellschaft von einer Eskalation von Partikularinteressen und von unproduktiver Konfrontation geprägt sein.

Erstürmung der Bastille; Jean-Pierre Houël. Public Domain.

Erstürmung der Bastille; J.-P. Houël. Public Domain.

Fazit

Es wäre zu wünschen, dass wir den aktuellen Zeitenübergang smarter managen als den letzten (siehe französische Revolution). Dazu brauchen wir nach Peter Drucker nicht zusätzliche Regeln, sondern – wie er sagt: “Kein Land leidet an einem Mangel von Regeln. Was wir brauchen ist ein neues Modell.”

 

© Isabella Mader. Teilen und zitieren in sozialen Netzwerken unter Angabe der Quelle gestattet.
Kapitel aus dem in Entstehung befindlichen Buch:
Ein Moment der Wahrheit: Neue Rollen für Bürger, Wirtschaft und Government in der Netzwerkgesellschaft (Arbeitstitel).
Eine weiterführende, frühere Langfassung lesen Sie hier.

Die erstmalige (auszugsweise) öffentliche Präsentation der hier formulierten Inhalte fand am 6. September 2016 im Rahmen einer Veranstaltung des Wirtschaftsforums der Führungskräfte (WdF) im Haus der Industrie statt. Eine Nachlese zur Veranstaltung finden Sie hier.

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[1] Pofelt, Elaine; Shocker: 40% of Workers Now Have ‘Contingent’ Jobs, Says U.S. Government. Forbes, 25 May 2015. [Online]: http://www.forbes.com/sites/elainepofeldt/2015/05/25/shocker-40-of-workers-now-have-contingent-jobs-says-u-s-government/

[2] World Values Surveys, Waves 5 and 6 (2005 – 14). Konsolidierte Daten aus EU-Mitgliedsstaaten. Gültige Antworten: USA 3,398; EU 25,789. Eigene Abbildung.
Vgl. Foa, Roberto S.; Mounk, Yasha: The Danger of Deconsolidation – The Democratic Disconnect. Journal of Democracy, Vol. 27, No. 3, July 2014.

[3] Mader, Isabella: Hass und Spaltung: Wie uns das Reptiliengehirn die Demokratie vermasselt. [Online]: http://www.excellence-institute.at/hass-und-spaltung-wie-uns-das-reptiliengehirn-die-demokratie-vermasselt/

[4] Aghion, Philippe et al.: Volatility and growth: Credit constraints and productivity-enhancing investment. Working paper, Department of Economics, Harvard University, 2005. [Online auf Harvard DASH:] https://dash.harvard.edu/handle/1/27769097

[5] Ostry, Jonathan ; Loungani , Prakash, Furceri, Davide: Neoliberalism: Oversold? IMF Finance & Development, Vol. 53, Nr. 2, Juni 2016. [Online]: http://www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2016/06/pdf/ostry.pdf

[6] Ip, Greg: Fiscal Policy Makes A Quiet Turn Toward Stimulus. Wall Street Journal, 14.09.2016. [Online]: http://www.wsj.com/articles/fiscal-policy-makes-a-quiet-turn-toward-stimulus-1473870699

[7] Mader, Isabella; Müller, Wolfgang (2016) Managing The Transition To An Entrepreneurial Society. Global Peter Drucker Forum Blog, 25. Mai 2016. [Online]: http://www.druckerforum.org/blog/?p=1228

English version

Direkte Demokratie und Partizipation sind in aller Munde, gleichzeitig taumelt eine etablierte westliche Demokratie damit geradezu demonstrativ in eine selbstgemachte Krise und Spaltung: Das Brexit Referendum offenbart in idealtypischer Weise, dass unsere Gesellschaft und ihre Institutionen für eine Partizipationskultur nicht reif sind. Das Phänomen Trump in den USA, das rasante Anwachsen der extrem rechten Wählerschichten in vielen Ländern Europas sowie dem Hass im Netz wurde in jüngster Zeit viel Diskussion gewidmet. Interdisziplinäre Forschung zeigt nun Gründe und Auswege auf.

In der beginnenden Netzwerkgesellschaft erwarten Bürgerinnen und Bürger stärkere Beteiligung an Entscheidungsprozessen. Es zeigt sich jedoch gerade in der jüngeren Zeit, dass der öffentliche Diskurs in vielen Ländern zu einer Spaltung geführt hat. Zwei Lager mit diametral gegensätzlichen Meinungen stehen einander unversöhnlich gegenüber. Wähler in der Folge als dumm, ungebildet, allen Ernstes auch als zu alt (wie im aktuellen Brexit Beispiel) oder im freundlichsten Fall als “Globalisierungsverlierer” zu brandmarken ist so wenig zielführend wie generell zutreffend. Ressentiments nehmen dadurch nur noch zu. Letztlich wird auf diese Weise Demokratie indirekt in Frage gestellt, ohne dass die dahinterliegenden Probleme damit gelöst würden.

Wenn auch teilweise nachweislich mit unlauteren Methoden erreicht, mögen Proteststimmen vielleicht kurzfristig Genugtuung bringen, gleichzeitig stehen Länder danach mit den Scherben da und man hat unter Umständen das Gegenteil dessen erreicht, was beabsichtigt wurde.

Viele Bürgerinnen und Bürger haben in letzter Zeit auch den Weg gewählt, dem Hass entgegen zu treten, oder auch Anzeigen zu erstatten, oder aber geduldig in Gespräche einzutreten und Falschinformation aufzuzeigen … nur um festzustellen, dass in allen populistischen, reaktionären und extremistischen Lagern eine Faktenresistenz besteht, die jede Diskussion ergebnislos zermürbt. Es wird nichts erreicht, nichts bewegt.

Was läuft also falsch?

Um zu verstehen, welche Mechanismen uns hier in die Quere kommen, liefern mehrere Disziplinen Erklärungen und Hilfe.

  1. Basic Instincts: Die Neurowissenschaften ertappen uns in flagranti

Der Mensch erreicht langfristig die höchste Zufriedenheit mit Entscheidungen und vermeidet unerwünschte Nebeneffekte, wenn er besonnen und kooperativ agiert statt impulsiv-reaktiv. Dazu müssen wir wissen, dass wir verschiedene Gehirnregionen und damit Arten zu entscheiden haben, die ganz unterschiedliche Ergebnisse bringen. In Situationen gefühlter Bedrohung oder Angst übernimmt unser so genanntes Reptiliengehirn (der evolutionsgeschichtlich älteste Teil unseres Gehirns) und entscheidet impulsiv entweder auf Kampf oder Flucht, während das moderne, rational denkende Gehirn blockiert wird. Hier liegt auch die Erklärung für den Hass im Netz, für den Erfolg einer Brexit Kampagne oder von Donald Trump. Das Reptiliengehirn kennt im Kampf nur Sieg oder Unterwerfung: es wird daher gekämpft bzw. diskutiert, bis der andere einlenkt, mit allen Mitteln – und das leider auf dem Niveau des Reptiliengehirns. Dieses ist auch dafür verantwortlich, dass Menschen in Situationen gefühlter (nicht notwendigerweise wirklich real vorhandener!) Bedrohung eine völlige Faktenresistenz zeigen, die mit keinen Beweisen, mit keiner Argumentation zu erschüttern ist: Das Reptiliengehirn kann nämlich nicht rechnen und es merkt sich nichts. Deshalb wiederholt es auch Verhaltensweisen, die früher scheiterten. Es kennt nur angreifen, fliehen oder erstarren – und außerdem noch essen, Sicherheitsgefühl und Sex. Das ist alles. Für Tiere in freier Wildbahn oder für die Reptilien, von denen wir diesen Gehirnstamm haben, ist dies durchaus ausreichend. Für Menschen, die komplexe Gesellschaften erhalten wollen, ist eine Reduktion auf diese letztlich primitiven Instinkte fatal: Krieg, Kontrollverlust, Chaos, Gewalt, Zerstörung. Die Entwicklung der menschlichen Zivilisation ist der Überwindung dieser primitiven Instinkte geschuldet, und ein Set anderer Fähigkeiten hat sich bewährt. Dazu gehören kooperative, strategische Entscheidungsfindung und planvolle, besonnene Vorgehensweisen. Diese sind im sogenannten Neokortex beheimatet, dem modernen Gehirn des Menschen, der uns vom Reptil unterscheidet. Wie können wir also vermeiden, in die Angst-Klemme zu kommen und deshalb zu reagieren wie ein verletztes Tier – und uns damit den Weg zu besseren Entscheidungen abzuschneiden? Letztlich ist das eine Frage von Training, sich hierbei selbst auf die Schliche zu kommen. Und wie kann die Politik verhindern, dass große Teile der Bevölkerung in eine solche Angst-Falle tappen, die in westlichen Zivilisationen schon allein deswegen unangemessen ist, weil unmittelbar lebensbedrohliche, reale Gefahrenlevel in den Leben der meisten Menschen im Westen nachweislich kaum jemals bestehen? Wie verhindern, wenn Teile der Politik intensiv damit beschäftigt sind, genau diese Angst künstlich zu generieren?

 

  1. “It’s the Economy, stupid”: Mehrjähriger Reallohnverlust rächt sich

Empfundener und faktischer Verlust an finanzieller Sicherheit oder an Wohlstand macht anfällig für Angst – und damit für die oben beschriebenen Phänomene von blindem Hass und Kampf. In einer Serie von ersten Tests langjähriger Vergleiche zeigte sich, dass die Menschen Reallohnverluste möglicherweise erst mit einer Verzögerung von ein paar Jahren wirklich zu spüren scheinen – denn erst dann bricht der private Konsum entsprechend den Reallohnverlusten ein und mit ähnlicher Verzögerung einiger Jahre erzielen dann reaktionäre, zumeist weit rechts stehende, populistische Kräfte deutliche Zugewinne bei Wahlen, während die politische Mitte massive Verluste hinnehmen muss (Beispiele sind hier Deutschland, Großbritannien, Österreich, aktuell auch USA mit Trump). Reallöhne werden jedoch freilich nicht der einzige Indikator sein. In Frankreich zeigt statt der Reallöhne die Entwicklung der Arbeitslosigkeit den gleichen Effekt. In jenen Ländern im Vergleichstest, die konstante, wenn auch moderate Aufwärtsentwicklung bei den Reallöhnen vorweisen können, tritt die beschriebene Polarisierung im Wahlverhalten bzw. das Einbrechen der politischen Mitte nicht auf diese Weise ein (Beispiel: Kanada). An sich ohnehin naheliegend: Abgesicherte Kaufkraft dürfte immun machen vor irrationalen Ängsten. Vielleicht ist dies auch ein Grund, weshalb zu beobachten ist, dass in Österreich beispielsweise die FPÖ mit hoher Konsequenz gegen Sozialgesetzgebung stimmt, die untere Einkommensschichten stärken soll[1]. Aus der Logik heraus, dass finanziell abgesicherte Menschen schwer zu radikalisieren sind, scheint eine solche Strategie durchaus nachvollziehbar (sofern dies mit Absicht und nicht zufällig geschieht).

In Österreich liegt der Index der realen, monatlichen Nettolöhne derzeit 1,5 Prozent unter dem Wert des Jahres 2000. Die monatlichen, realen Bruttolöhne pro ArbeitnehmerIn sind im gleichen Zeitraum bescheiden gestiegen: die Arbeitgeber zahlen also mehr, während weniger davon bei den Arbeitenden ankommt.

Reallohnindex Österreichh 2000-2015

 

In Deutschland lagen die Reallöhne durchgehend von 2000 bis zum Jahr 2013 deutlich unter dem Ausgangswert des Jahres 2000. Erst seit 2014 liegen sie wieder über dem Wert des Jahres 2000. Phänomene wie der Aufstieg der FPÖ in Österreich mit derzeitigen Umfragewerten um die 30 Prozent und AfD-Wahlergebnisse mit bis zu 24 Prozent in manchen Bundesländern scheinen im Lichte dieser Betrachtung durchaus folgerichtig: Angst wählt extrem und irrational.

In Großbritannien lagen die Reallöhne 2015 auf dem Wert von 2004 – nach einer ununterbrochenen Talfahrt seit 2009. Das Brexit-Votum wäre demgemäß weniger überraschend als vielmehr konsequent und erwartbar.

Reallohnentwicklung USA seit 1979

In den USA sind die Reallöhne der unteren Einkommensgruppe im hier zugrundeliegenden Beobachtungszeitraum seit 1979 (!) völlig unverändert (1979: $ 383/Woche; 2014: $ 379/Woche), während die oberen Reallöhne von $ 1.422/Woche im Jahr 1979 auf $ 1.898/Woche im Jahr 2014 stiegen.[2] Die in der Tat beachtliche Performanz der Regierung Obama hat mit einem Dow Jones zu Beginn der Amtsperiode um die 6.600 Punkte und heute von über 17.000 Punkten, von einer mehr als halbierten Arbeitslosenrate seit Amtsantritt (von 10% auf unter 5%), einem deutlich gesteigerten Bruttonationaleinkommen und weiteren herzeigbaren, sehr positiven Kennzahlen im Vergleich zur Legislaturperiode von G.W. Bush einen – allerdings relevanten – Schwachpunkt, den Obama mit einer ganzen Reihe seiner Vorgänger teilt: die Entwicklung der unteren und mittleren Reallöhne. Die “schönsten” Kennzahlen nützen nichts, wenn sie nicht in den Geldbörsen der Mittelschicht und der unteren Einkommensgruppen ankommen. Nachdem jedoch die mittleren und unteren Einkommensgruppen den Großteil der Bevölkerung jedes Landes ausmachen, verwundern die Erfolge von Trump auch hier nicht.

Kanada hat beispielsweise lt. International Labour Organization (ILO) zwischen 2007 und 2013 die Reallöhne der Kanadier gleich um ganze 5 Prozentpunkte angehoben. Kanada ist in den aktuell in diesem Projekt verfügbaren Datensätzen allerdings der einzige derartige Lichtblick.

Man könnte auch titeln: Die längerfristige Schwächung der Reallöhne rächt sich für Mitte-Parteien am Wahltag.[3][4]

 

  1. “It’s the Communication, stupid”: Viele Probleme der Politik sind Kommunikationsversagen

Öffentliche Kommunikation gerät zu Gehirnwäsche, wenn über längere Zeit mit nationalen Sparbudgets und dem Kürzen von Sozialleistungen “Wir haben kein Geld” suggeriert wird. Irgendwann glauben die Menschen das dann, auch wenn ihr Gehaltskonto dies möglicherweise (noch) gar nicht anzeigt.

Heute, wo jeder Einzelne x-beliebige Inhalte ins Web stellen und wie Nachrichten aussehen lassen kann, ist spätestens der Zeitpunkt, an dem es sich lohnen könnte, über Informationskompetenz in der Gesellschaft, und wie diese zu bilden wäre, nachzudenken.

Medien sind dennoch in der Pflicht: Wahlergebnisse werden nicht unwesentlich von deren Stil beeinflusst und in manchen Fällen ist nicht klar, ob manche Medien nicht bereits mehr Politik als Nachrichten machen. Typischerweise fällt daher auch die schreierische, reißerische Aufmachung von Boulevard-Medien unter den oben beschriebenen Typ der Kommunikation für das Reptiliengehirn. Selbiges versucht auch, durchaus intelligent zu klingen – während dennoch allzu häufig Daten schlechter Qualität oder überhaupt Falschinformation verwendet werden. Interessanterweise entschuldigt auch eine Wählerschaft, die erfolgreich auf ihr Reptiliengehirn-Glatteis geführt wurde, alle nachgewiesenen Unwahrheiten bis hin zu offener Korruption, solange sie dem Ziel der totalen Vernichtung eines vorgeblichen Feindes dienen. Das erklärt auch, weshalb erbitterte Brexit-Befürworter gar nichts dabei finden, dass Politiker wie Nigel Farage Stunden nach dem Ergebnis des Referendums bereits ihre Zusagen zurücknehmen und mangels Konzept schließlich sogar zurücktreten – weil sie selbst im Reptiliengehirn-Modus agierten und die Konsequenzen ihrer Forderungen weder abschätzen konnten noch ein Programm dafür hatten.

Was für einzelne Politiker gilt, gilt auch für die Kommunikations- und Beteiligungskultur von Wirtschaftsräumen, z.B. der Europäischen Union. Diese möchte sich im Lichte der aktuellen Ereignisse gerne als Sieger darstellen und den Briten eine Lehre erteilen. Leider sind jedoch viele der aktuellen Entwicklungen in Europa von der EU-Politik selbst mit ausgelöst worden, allen voran durch Austeritätsprogramme, die in vielen Ländern zu den beschriebenen Reallohnverlusten führten, ohne jedoch nachhaltig Strukturreformen anzugehen. In einem beachtenswerten aktuellen Artikel “Neoliberalism: Oversold?” stellen WF Ökonomen bereits ihre eigene, jahrelange IWF-Austeritätslinie in Frage.[5]

Aus den genannten Gründen sind weder nationale Regierungen noch die Europäische Union aus der Pflicht in Bezug auf ihre Kommunikation und ihre Vorgehensweisen. In Zeiten hoher Transparenz sind zerstrittene Koalitionsregierungen, die durch gegenseitige Blockade jahrelang keine nennenswerten Vorhaben auf den Boden bringen genauso eine Gefahr für sie selbst wie eine Europäische Union, die allen Ernstes Abkommen wie TTIP mit weitreichenden Konsequenzen für den gesamten Wirtschaftsraum unter Geheimhaltung in “Leseräumen” für Abgeordnete zur Verfügung stellt oder CETA ohne Einbindung der nationalen Regierungen beschließen will. Co-Kreation, Beteiligungskultur und gut informierte (!) und bezahlte Bürgerinnen und Bürger scheinen die Minimalanforderung in einer Netzwerkgesellschaft zu sein.

Die letzte Zeitenwende brachte nicht nur die Disruption der Handwerker und Bauern durch die Industrie. Sie brachte auch die Disruption der Monarchien durch Demokratien. Die aktuelle Zeitenwende löst die Silo-Systeme der Industriegesellschaft in der Wirtschaft und auch in den Regierungen ab und ersetzt sie durch flache Netzwerkstrukturen. Legitimation wird dabei sowohl im Management als auch in der Politik nicht mehr durch das Amt generiert, sondern durch Bürgerinnen und Bürger, die von ihnen mitgestaltete Programme schließlich auch mittragen. Alle Beteiligten wären deshalb gut beraten, für diese neue Epoche gemeinsam (!) einen Weg zu finden, wie wir mit Information und gemeinsamen Entscheidungen in Zukunft umgehen wollen.

Fazit

Solange ganze Gesellschaften unbewusst im Reptilien-Modus operieren, wird sich die aktuelle krisenhafte Entwicklung weiter verschärfen. Die Lösungen liegen aber möglicherweise deutlich näher als sie aktuell erscheinen, sie erfordern letztlich nur eine bewusste Entscheidung: Der Weg vom Reptiliengehirn zum Neokortex ist nämlich in der Tat recht kurz:

Staaten und Staatengemeinschaften werden in Zeiten hoher Transparenz und Komplexität nur mit einem Werteset Bestand haben, bei dem Gemeinsamkeit und Wohlstand bei so gut wie allen Menschen auch ankommen und eben nicht nur bei einigen. Es wäre schade, wenn gerade ein Friedensprojekt wie die EU an einer solchen Grundsatzfrage der Netzwerkgesellschaft, nämlich durchgehaltener Kooperation, Co-Kreation und “Sharing” auf allen Ebenen zerbrechen würde. Schließlich tragen die USA, Großbritannien oder eben auch die EU sinnbildlich die Gemeinsamkeit mit “United” bzw. “Union” schon im Namen und wären damit idealtypische Vorreiter einer neu definierten “Demokratie 4.0”.

Isabella Mader, MSc
1. August 2016

Ergänzung vom 21.09.2016:
Nach Erscheinen dieses Artikels gibt es nun Erfreuliches zu berichten: Nach vielen Jahren der Stagnation bzw. dem Sinken von Reallöhnen haben nun eine ganze Reihe von Staaten Verbesserungen für kleine und mittlere Einkommen angekündigt, zuletzt Finanzminister Schäuble für Deutschland Anfang September 2016.
Den Bericht dazu gibt es hier nachzulesen, er verweist erstmals auch auf die Beweggründe, die im Umfeld populistischer Wahlerfolge liegen. 
Ip, Greg: Fiscal Policy Makes A Quiet Turn Toward Stimulus. Wall Street Journal, 14.09.2016. [Online]: http://www.wsj.com/articles/fiscal-policy-makes-a-quiet-turn-toward-stimulus-1473870699

 

Hinweis:
Bei den publizierten Inhalten handelt es sich um erste Ergebnisse eines laufenden Forschungsprojektes. Weitere Ergebnisse werden nach Verfügbarkeit publiziert. 
Gerne stehen wir für Rückfragen unter info [@] excellence-institute.at zur Verfügung.

Erklärung zur Grafik Reallöhne USA:
90th, 75th, etc. bezeichnen so genannte “Percentiles”, mit denen die jeweiligen Einkommensgruppen in den USA unterschieden werden.

[1] Siehe Recherche von A. Hirschal: https://www.facebook.com/adi.hirschal/posts/1053528918011079

[2] Economic Policy Institute: The Federal Minimum Wage Has Been Eroded By Decades Of Inaction. [Online]: http://www.epi.org/publication/the-federal-minimum-wage-has-been-eroded-by-decades-of-inaction/

[3] Es geht auch anders: Eines von vielen Beispielen ist Minnesota http://www.huffingtonpost.com/entry/mark-dayton-minnesota-economy_b_6737786

[4] Interview mit Mariana Mazzucato zu “Dangers of austerity craziness”; Financial Times on.ft.com/1Pc7Zlj

[4] http://www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2016/06/pdf/ostry.pdf